2 Meter Abstand

Der Auswanderer:
Pierre Saldinger

2m Abstand, Pierre Saldinger

2m-abstand.ch: Pierre Saldinger war schon als kleiner Bub fasziniert von den USA. Sein Medizinstudium führte ihn in die USA – dort blieb er bis heute. Im Juni erlebte er als Chefarzt des New York-Presbyterian-Spitals in Queens (New York) den überfallartigen Ausbruch des Corona-Virus im dichtbesiedelten New Yorker Stadtteil.

«Das Virus kam wie ein Tsunami auf uns zu.»
Mittlerweile ist die Normalität und Routine zurückgekehrt nach Queens. Dr. Pierre Saldinger, der Basler Chefarzt am New York-Presbyterian-Spitals in Queens operiert einen Tag pro Woche, kümmert sich einen Tag um die Patienten und drei Tage um administrative Belange, die sein Job so mit sich bringen. Doch vor zwei Monaten sah hier alles ganz anders aus. «Wir wurden von einem Corona-Tsunami erfasst – auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten. Wir waren überfordert und versuchten, das Optimum aus der Situation herauszuholen», erinnert sich Saldinger. Und fährt fort: «Vor allem die Intensität war enorm. Wir stoppten alle Operationen, hatten aber keine Ahnung, was auf uns zukommen würde.» Saldinger vergleicht die kritischsten Situationen mit einer Schlacht. «Wir wurden immer wieder angegriffen und mussten uns täglich von neuem verteidigen und neu aufstellen. Es herrschten zeitweise traumatische Verhältnisse», schaut er mit Schaudern auf die schlimmen Wochen zurück. «Wenn man mittendrin steckt, funktioniert man nur noch. Erst später wird einem bewusst, was genau abging.»

«Wir haben alles Mögliche gemacht – manchmal auch scheinbar Unmögliches.»
Im Nachherein ist man immer schlauer. Niemand konnte das Ausmass dieser Welle auch nur annähernd erahnen. «Eine solche Flutwelle an Ereignissen überfordert alle. Ich denke, wir haben einfach das Beste gemacht. Wir hatten ein sensationelles Team, tauschten uns mit anderen Spitälern aus, holten uns Verstärkung aus anderen Staaten und am Ende taten wir vor allem eines: Wir funktionierten.» Pierre Saldinger und sein Team lösten Strukturen ab und bauten zusätzliche Intensiv-Stationen. Der Chefarzt kümmerte sich eigenhändig um die Covid-Patienten. «Rückblickend haben wir auch sehr viele schöne Dinge erlebt. Trotz allen negativen Erlebnissen wuchsen wir noch näher zusammen. Das ist es, was am Ende bleibt.»

2m Abstand, Pierre Saldinger der Basler Chefarzt am New York-Presbyterian-Spitals in Queens
Pierre Saldinger, der Basler Chefarzt des New York-Presbyterian-Spitals in Queens

«Man kann die USA nicht mit Europa vergleichen.»
Die USA musste für seine Covid-Strategie zurecht tüchtig Prügel einstecken. Vieles, was Präsident Donald Trump in den letzten Monaten im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Virus’ anpackte, lief schief. Das sieht auch Pierre Saldinger. Dennoch wehrt er sich gegen Vergleiche mit seiner alten Heimat. «Viele Menschen in Europa haben ein falsches Bild der USA. Zwar heisst es Vereinigte Staaten der USA aber wenn man North Dakota und Kalifornien vergleicht, liegen Welten dazwischen. Einzig die Sprache ist die gleiche. Ein Land mit 350 Mio. Einwohnern ist komplex – die individuellen Regelungen in den einzelnen Staaten machen es nicht einfacher», erklärt der Schweizer Chefarzt.

«Wir haben leider keine Ahnung, was noch alles kommt.»
Pierre Saldinger hat dem Horror in die Augen gesehen. Zwar hat auch er kein Rezept gegen das Virus, aber er appelliert an die Vernunft, die einfachen Dinge richtig zu machen: «Wir müssen jetzt alle Maske tragen und lernen damit zu leben. Und wir müssen regelmässig unsere Hände waschen – beides hat sich bisher bewährt.» Ein probates Mittel gibt es ja bekanntlich bisher nicht und gemäss Pierre Saldinger ist vorerst auch keines in Sicht. «Ich kenne das Virus jetzt seit Januar. Wir haben leider keine Ahnung, wie es sich verändert. Wir müssen einfach demütig sein und akzeptieren, dass wir bis heute nicht mehr darüber wissen.»

«Wer kann 100 – 200 Mio. Impfstoffe-Einheiten produzieren?»
Prognosen für den Verlauf von Covid-19 sind laut Pierre Saldinger zurzeit unmöglich. Wir wissen noch nicht, wann wir einen Impfstoff haben. Wir haben keine Ahnung, wann er zugelassen wird. Und wir wissen nicht, woher wir die Kapazität nehmen, für 100 – 200 Mio. Amerikaner/innen einen Impfstoff zu produzieren.» Der Basler Arzt ist überzeugt, dass wir mit dem Virus leben lernen und uns anpassen müssen. «Corona ist stärker, wir sind schwächer – so sind nun mal die Kräfteverhältnisse.»

Pierre Saldinger, 2m Abstand

«Queens ist der Ort mit der weltweit grössten Diversifikation.»
Man stelle sich vor: Nur 11 200 der 2,3 Millionen Einwohner in Queens sind Einheimische und stammen ursprünglich aus den USA. «Queens ist absolut faszinierend Hier werden Sprachen aus fast 200 Ländern gesprochen – einige kommen nicht mal mehr in ihrem Ursprungsland vor», schwärmt Pierre Saldinger von «seinem» Stadtteil. «Hier war der Eintrittshafen nach New York und in die USA. Die Diversifikation gilt als eine der grössten in der ganzen Welt.»

«Man muss immer dankbar sein für das, was man hat.»
Pierre Saldingers Familie ist jüdischer Abstammung. Der Vater wurde in Rumänien geboren, lebte in Wien und flüchtete in die Schweiz. Die Familie seiner Mutter musste in Frankreich von der Gestapo flüchten. «Nichts ist garantiert. Man muss deshalb immer dankbar sein für das, was man hat – und es an jemanden anderen weitergeben. Ich wollte immer beweisen, dass ich etwas aus meinem Leben machen kann», erzählt der gebürtige Basler nachdenklich. Und fährt fort: «Für mich ist es ein Privileg, talentierten Menschen zu helfen, etwas aus Ihrem Können herauszuholen.»

Letzte Frage

Was hat sie bewogen, in die USA zu ziehen?

«Die Vereinigten Staaten faszinierten mich schon als kleiner Bub. Meine Mutter wuchs ist Frankreich auf und erlebte die amerikanische Invasion und die Befreiung im Zweiten Weltkrieg. Das hat mich geprägt – ich wollte immer schon herausfinden, was es mit Amerika auf sich hat. So flog ich für zwei Monate als Student nach San Francisco und anschliessend studierte ich für ein Jahr in Boston. Danach blieb ich, obwohl mir die Schweiz sehr viel bedeutet. Ich vermisse die Alpen, das Wandern und Skifahren, die Basler Altstadt, das Schwimmen im Rhein...»