Die Unaufhaltsame: Sabine Reist
2m-abstand.ch: Endlich kann Sabine Reist dorthin zurückkehren, wo sie sich sehr wohl fühlt: Seit letzten Mittwoch begleitet die sehbehinderte Servicefachfrau und angehende Sozialarbeiterin Menschen kulinarisch durch den Tag – im Restaurant Blinde Kuh in Zürich.
Sabine, wie hast du die vergangen 12 Monate erlebt?
Es war schon sehr aussergewöhnlich, vor allem, weil praktisch alles von hundert auf null heruntergefahren wurde. Plötzlich hat man geschenkte Zeit und weiss zuerst nicht recht, was man damit anfangen soll. Ich habe als erstes die Wohnung geräumt und den Kleiderschrank ausgemistet. Gleichzeitig habe ich viele neue Dinge entdeckt: Zum Beispiel bin ich tiefer in die digitale Welt eingetaucht und habe neue Kochrezepte ausprobiert.
Und was hat dich in dieser Zeit getragen?
Ganz klar mein Studium als Sozialarbeiterin. Ich wurde durch die Dozierenden andauernd mit neuen Aufträgen bombardiert und so richtig auf Trab gehalten. Das war ein grosser Halt und gab mir die notwendige Struktur.
Du arbeitest ja neben deinem Studium im Restaurant Blinde Kuh in Zürich. Was hast du in der Zeit unternommen, in der du nicht arbeiten konntest?
Eigentlich nicht viel. Einiges im Freizeitbereich ist leider weggefallen: Der Kirchenchor, mein Pilates-Training, die Treffen mit Freunden. Und meine Weiterbildung fand nur noch online statt. Zum Glück komme ich aus einer Grossfamilie – dort war und bin ich immer sehr gut aufgehoben.
Welches Erlebnis hat dich in den letzten Monaten am meisten geprägt?
Vielleicht der Wandel unserer Gesellschaft. Viele Menschen gingen auf Abstand. Eine herzliche, ungezwungene Begrüssung fand kaum mehr statt. Zudem nahmen man sich mehr Zeit für sich selbst und fragte sich auch mal: Wie geht es mir wirklich? Auch herrschte weniger ein Gehetze, was ich sehr positiv empfand.
Wie hast du dich in den vergangenen Monaten immer wieder neu motiviert?
Mein Studium hat mich täglich angetrieben. Bisher habe ich alle Prüfungen mit Bravour bestanden; das macht mich glücklich und auch ein wenig stolz. Als nächstes suche ich eine Praktikumsstelle. Ich hoffe, dass mir jemand eine Chance gibt.
Zurzeit wartest du sehnsüchtig auf deinen neuen Blindenhund…
Ja, ich kann es kaum erwarten, Malouk an meiner Seite zu haben. Er durchläuft zurzeit noch die letzten Schulungen. Ende Juni darf ich ihn im Empfang nehmen. Wir haben uns schon beschnuppert und ich denke, wir mögen uns. Er hat sehr feine Charakterzüge und ich freue mich sehr auf ihn. Er wird mir eine grosse Hilfe in meinem Alltag sein.
Du arbeitest ja im Restaurant Blinde Kuh in Zürich. Bitte beschreibe doch mal deine Arbeit.
Wir sind ein ganz normaler Gastrobetrieb mit einem speziellen Konzept. Das Küchenteam, die Putzequipe und die Empfangs- sowie Administrationsmitarbeitenden bewegen sich im sehenden Bereich – alles andere passiert im Dunkeln: Wir bedienen beispielsweise aus den Kühlschubladen im Buffet: Hier hat alles seinen Platz – das ist übrigens auch in meinem Haushalt so (lacht)…
Wie findet sich der Gast zurecht?
Wir haben 12 Tische und drei Servicestationen, wo drei Servicemitarbeitende im Einsatz stehen. Jede*r weiss haargenau, für welchen Bereich er/sie zuständig ist. Die Gäste werden im Eingangsbereich abgeholt und an den Tisch geführt. Wir geben ihnen die Regeln bekannt und begleiten sie durch den Abend.
Wie schaffst du es, die richtigen Speisen den richtigen Personen zuzuweisen?
Ganz einfach: Ich merke mir die Stimmen und speichere das gewünschte Menü und die Getränke im Kopf. Das ist bei 26 – 30 Personen pro Abend manchmal sehr herausfordernd, aber macht gleichzeitig auch den Reiz aus.
«Plötzlich hat man geschenkte Zeit und weiss zuerst nicht recht, was man damit anfangen soll.»
Welches war deine berührendste Erfahrung?
Da gibt es natürlich einige. Am schönsten ist es, wenn man Menschen zusammenführen kann; einmal hatten wir per Zufall zwei australische Paare als Gäste – am Schluss sassen sie am gleichen Tisch und verbrachten einen unvergesslichen Abend. Das war für alle ein sehr emotionales Erlebnis.
Du lässt dich gerade zur Sozialarbeiterin ausbilden, bitte erzähle uns etwas darüber.
Es war schon immer mein Wunsch, in diesem Bereich zu arbeiten. Natürlich ist es nicht ganz einfach, als Sehbehinderte in diesem Beruf Anschluss zu finden, aber bisher klappt alles ausgezeichnet und ich wurde auch überall gut aufgenommen.
Welchen Traum möchtest du dir eines Tages erfüllen?
Hier denke ich vor allem kurzfristig; ich erhoffe mir, dass ich eine 50- oder 60-prozentige Praktikumsstelle bekomme und ich so meine Ausbildung abschliessen kann. Auch wünsche ich mir einen Lebenspartner, mit dem ich den Alltag teilen kann.
Letzte Frage
Auf was freust du dich, wenn die Pandemie vorbei ist?
Auf das Konzert von James Blunt, das schon dreimal verschoben wurde.